15. August 2021

Reflexion über mein Leben

Bratsche! Das Instrument, mit dem alles möglich ist: von dunkelster Sonorität bis zu ätherischer Höhe, von melancholischer Zartheit bis hin zu voller Energie, von elegischer Weichheit bis brutalster Härte.


Bereits mit sechs Jahren war ich vollkommen davon überzeugt, dass die Bratsche, und nur sie allein, mein Instrument war. Deshalb wählte ich auch nicht den üblichen Weg, erst einmal auf der Geige zu beginnen. Die beiden Instrumente unterscheiden sich doch grundlegend in Klanggestaltung und Technik, auch wenn beide die gleiche Körperhaltung erfordern. Meine damalige großartige Lehrerin Ute-Christine Elfert unterstützte mich wunderbar in meinem Wunsch und verhalf mir zu zahlreichen solistischen Auftritten mit dem Orchester der Musikschule Freiburg, wo ich aufwuchs. Die wichtigsten Violakonzerte der Klassik und des Barock gehörten so schon früh zu meinem Standardrepertoire.

Die Freude am Musizieren, die Inspiration, die am Instrument entsteht und die allmähliche geistige Durchdringung der Werke waren für mich auch in der Jugend schon das Allerwichtigste. Mit dieser Herangehensweise und durch die fortwährend positive Unterstützung meiner Familie und meiner Lehrer gewann ich während meiner Schulzeit insgesamt viermal den ersten Bundespreis bei „Jugend musiziert”, wurde Stipendiatin der „Deutschen Stiftung Musikleben” und trat als Solistin mit dem Landesjugendorchester auf. Ich besuchte das „Interlochen Arts Camp” in Michigan, eine Erfahrung von größtem Wert, hatte ich doch Gelegenheit, dort mit renommierten Dirigenten zu arbeiten.

Durch diese meine Erfolge und schon damals rege Konzerttätigkeit wurde Kim Kashkashian, die damals in Freiburg unterrichtete, auf mich aufmerksam und nahm mich als Jungstudentin in ihre Meisterklasse auf. Ihr verdanke ich meine große Affinität zu Elementen der Folklore, insbesondere auch der armenischen Volksmusik, die ich durch sie entdecken durfte. Ihr Vorbild bestärkte mich in der Überzeugung, dass der solistische Weg als Bratschistin auch der meinige sein sollte.

Gerade in der Kammermusik hat die Bratsche einen besonderen Stellenwert – man sagt beispielsweise, sie sei „die Seele“ des Streichquartetts. Als Mitglied des Kuss-Quartetts studierte ich bei Walter Levin und Christoph Poppen. Wir waren Gast bei internationalen Festivals wie Aspen und Santander und arbeiteten mit den berühmtesten Quartetten unserer Zeit zusammen. Besonders verbunden waren wir beispielsweise dem „American String Quartet”, das uns intensiv unterstützte. Viele wertvolle Anregungen erhielten wir auch von Mitgliedern des Emerson Quartets und von Earl Carlyss, ehemals Geiger im Juilliard Quartet.  Wir gewannen beim „Banff International String Quartet Competition“, was uns den Zutritt zu den international bedeutendsten Konzertpodien ebnete. Die Arbeit im Streichquartett -– wie man sagt, „eine Ehe zu viert” – bringt es mit sich, dass man im menschlichen Miteinander bei der täglichen Probenarbeit viele unsagbar lehrreiche Erfahrungen sammelt. Man ist aufeinander absolut angewiesen, muss verschiedene Vorstellungen in Einklang bringen, Kritik behutsam äußern und gleichzeitig nicht zu empfindlich sein – eine hohe Kunst der Diplomatie und, auch wenn dies vielleicht eigenartig klingen mag, der Nächstenliebe – wenn vier Menschen sich in guten wie schlechten Zeiten ertragen müssen. Earl Carlyss sagte einmal: „Playing in a quartet means that you must have a heart like a very very very well hung steak!” 

Mir ist die Zeit des Quartettspiels in bleibender, wunderschöner Erinnerung geblieben. Doch trotz unserer bedeutenden Erfolge vermisste ich die solistische Arbeit am Instrument. Ich setzte mein Studium bei Johannes Lüthy, Hartmut Rohde, Wilfried Strehle, Wolfram Christ und Yuri Bashmet fort. Jede einzelne dieser bedeutenden, großartigen Lehrerpersönlichkeiten gab mir einzigartige Impulse, die meine persönliche und künstlerische Entwicklung beeinflussten und formten. Ich denke, dass es für jeden angehenden Musiker essentiell wichtig ist, sich dem Einfluss unterschiedlicher Persönlichkeiten und Richtungen auszusetzen, um eine Bandbreite an Möglichkeiten kennenzulernen, aus denen sich dann der ganz eigene Stil herauskristallisiert. 

In dieser Zeit wurde ich mehrmals in die „Bundesauswahl junger Künstler” aufgenommen, gewann den Sonderpreis beim ARD Wettbewerb und wurde Preisträgerin beim Mendelssohn Wettbewerb der Deutschen Hochschulen. Seither verbindet mich eine rege Konzerttätigkeit und Freundschaft mit meinem Duopartner Prof. Axel Gremmelspacher, mit dem ich inzwischen in fast jedem deutschen Konzertsaal gespielt haben dürfte. Neben dem eingeführten Repertoire für Bratsche und Klavier durchforsteten wir gemeinsam die Altbestände aller möglicher Notengeschäfte und Antiquariate nach in Vergessenheit geratenen Kompositionen und wurden des Öfteren tatsächlich fündig. So entdeckten wir neu für uns beispielsweise Paul Juon, Jean Wiener, Charles Koechlin, die sich in Werken für unsere Besetzung verewigt hatten. Unsere Nachforschungen mündeten in der CD „Viola in Exile“, die Werke von aus Wien geflüchteten Komponisten dokumentiert. Dass wir diese zu Unrecht verkannten Werke aus dem Verborgenen geholt haben, war und ist uns ein großes Anliegen. 

Mein eher allgemeines Interesse an in Vergessenheit geratenen Komponisten und ihrer Musik richtete sich im Lauf meiner Entwicklung immer stärker auf speziell jüdische Komponisten, ihre oft grausamen Schicksale und ihr bedeutsames Oeuvre. Nicht zuletzt empfand ich schon immer große Affinität zur jüdischen Volksmusik, die in ihrer inzwischen über tausendjährigen Tradition viel mehr verkörpert als nur den allgemein bekannten Klezmer. Mit meinem Duopartner und Freund Jascha Nemtsov verbindet mich auf diesem Gebiet eine langjährige, intensive Zusammenarbeit. Jascha gilt mittlerweile als einer der weltweit führenden Forscher und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Geschichte der jüdischen Musik. Gerade für die Besetzung Viola und Klavier stießen wir auf einen unglaublichen Reichtum an Repertoire.

Für mich persönlich außerordentlich wichtig war die Entdeckung der vier Solosonaten von Mieczislav Weinberg in einer Moskauer Bibliothek. Ich hatte schon vorher eines seiner frühen Werke, die Sonate für Klarinette und Klavier, für unsere Besetzung bearbeitet. Doch diese vier Sonaten, komponiert am Ende seines Lebens, eröffnen völlig neue Welten – sie stellen sowohl musikalisch als auch technisch die höchsten Herausforderungen und sind von einer fast beängstigenden musikalischen Intensität durchdrungen. Meine Aufnahme dieser Sonaten stellt einen Meilenstein dar für die Welt des Violarepertoires. Sie wurde von der internationalen Presse in zahlreichen Rezensionen gewürdigt und gilt bis heute als Referenzaufnahme dieser Werke. 

Neben der regen Konzerttätigkeit, den Aufnahmen und der Forschung nach zu Unrecht vergessenen Werken lag mein Schwerpunkt auf dem Orchesterspiel als Solobratschistin bei den Münchner Philharmonikern. Schon als Jugendliche begeisterte mich die Form des Symphonieorchesters: Es gibt nichts Vergleichbares, was an Klangdimensionen, Reichtum des Repertoires, an Möglichkeiten des Ausdrucks diese Besetzung übertreffen könnte. Die musikalische Arbeit im Orchester ist ungeheuer vielschichtig und fordernd: Jeder Einzelne hat trotz der Größe des Ensembles eine immense musikalische Aufgabe zu erfüllen. Denn nur, wenn wirklich jeder sich auf seine bestmögliche persönliche Weise einbringt, bekommt das Ensemble seinen individuellen Charakter. Wenn man Aufnahmen der bedeutenden Orchester unserer Zeit vergleicht, hört man an der jeweiligen spezifischen Klanggebung meistens sofort heraus, welches Orchester gerade spielt: das Ergebnis des jeweils ganz eigenen Zusammentreffens der beteiligten Individuen.

Wenn schon das Streichquartett eine Lehrstätte erster Güte für die Erlangung von Menschenkenntnis in Verbindung mit Musik darstellt, wie sehr ist das erst im Orchester der Fall! Das Orchester: ein Abbild der Gesellschaft im Allgemeinen. Alles, was man an Charakteren und Persönlichkeiten auf der Welt antreffen kann, findet sich auch im Orchester – vom Kleingeist zum Mann von Welt, vom Pragmatiker zum Philosophen, vom Kämpfer zum Melancholiker … die Liste ist endlos. Es ist absolut faszinierend, in diese Welt einzutauchen und neben allem menschlichen Miteinander die größten und bedeutsamsten Werke der Musik mitgestalten und miterleben zu dürfen. Ich lernte auf diese Weise die berühmtesten Dirigenten unserer Zeit kennen und bereiste auf unseren Tourneen die ganze Welt. Für all diese Erfahrungen bin ich überaus dankbar. Meiner Meinung nach ist es gerade für Bratschisten eine absolute Notwendigkeit, zumindest eine Zeitlang im Symphonieorchester zu spielen. Die unendliche Vielfalt der Klänge und Ausdrucksmöglichkeiten, die sich nur hier findet, öffnet ganz neue Wege auch in der eigenen Entwicklung als Solist und Kammermusiker.

Schon als Orchestermusikerin war es mir ein großes Anliegen, meine Erfahrungen und mein Wissen zu teilen. Deshalb unterrichtete ich regelmäßig unsere Akademisten, die allesamt inzwischen hervorragende Positionen in europäischen Orchestern besetzen.  Aufgrund dieser erfolgreichen Arbeit in der Orchesterakademie wurde ich bereits damals eingeladen, Gastprofessuren zu übernehmen. Ich entdeckte bald meine große Leidenschaft dafür, gemeinsam mit jungen Musikern deren künstlerischen Weg zu formen und sie bei ihrer persönlichen musikalischen Entwicklung zu unterstützen. 

Nach aller Fülle der Erfahrungen, die ich in den verschiedenen vorangegangenen Phasen meines Lebens sammeln durfte, halte ich die Arbeit mit Menschen und das Weitergeben von Wissen für die größte und erfüllendste Herausforderung. In diesem Sinn freue ich mich auf jede neue angehende Künstlerpersönlichkeit, die mir anvertraut ist und deren Entwicklung ich begleite.

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